1. Was ist Verantwortung? Und wenn ja, warum?
Jeder, dem ein gesunder Menschenverstand gegeben ist, würde die Frage: „Sind wir für alle Konsequenzen unseres Handelns verantwortlich?“ wahrscheinlich ohne mit der Wimper zu zucken bejahen. Diese Schlussfolgerung klingt ganz selbstverständlich, fast schon banal. Doch als ethisch und philosophisch gebildeter Bürger liegt es natürlich nahe, das blinde Annehmen von Verantwortung etwas kritischer zu beäugen. Sind wir tatsächlich für alle Folgen unserer Taten haftbar, auch wenn sie erst in ferner Zukunft liegen? Was ist mit indirekten Konsequenzen, die während der Entscheidungsfällung nicht abzusehen waren? Wie können wir überhaupt guten Gewissens Entscheidungen treffen, da jede Abschätzung der Folgen essentiell nur Spekulationen sind?
Zunächst einmal sollten wir uns im Klaren sein, wer denn eigentlich Verantwortung übernehmen kann. Dem gesellschaftlichen Konsens nach sind es alle Menschen, die, um es mit Kants Vokabular auszudrücken, „mündig“ - also zu eigenständigem Denken fähig - sind. Wer durch sein Alter, seine kognitiven Fähigkeiten oder seine Gesundheit dazu nicht in der Lage ist, dem kann auch keine Verantwortung zugeschrieben werden. Aber wer von den unzähligen mündigen, erwachsenen und gesunden Menschen auf dieser Erde genau für was Sorge zu tragen hat, und noch viel spannender; warum, ist seit Jahrtausenden kontroverses Diskussionsthema von Politikern, Philosophen und Otto-Normal-Verbrauchern.
2. Das Gegenteil von gut ist gut gemeint
Einen möglichen Lösungsansatz für die Einstiegsfrage bietet Emmanuel Kant mit seinem deontologischen Ansatz. Demnach wird die Moralität einer Handlung nach ihren zugrundeliegenden Intentionen bewertet und nicht aus ihren Folgen. Solange das Individuum nach dem kategorischen Imperativ handelt, so trägt es auch keine Schuld an etwaigen negativen Konsequenzen. Als Beispiel für seinen Grundsatz der Pflichtethik wird oftmals Kants Aufsatz „Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen“ aus dem Jahre 1797 angeführt. In diesem wird das folgende Gedankenspiel geschaffen: Nehmen Sie an, ein Freund von Ihnen kommt eilig und gehetzt an Ihnen vorbeigelaufen. Wenig später folgt ihm ein bewaffneter Mann, der Sie fragt, in welche Richtung der Freund geflüchtet sei. Ein moralisches Dilemma zwischen der ethischen Pflicht, die Wahrheit zu sagen, und dem Wunsch, den Freund zu schützen, entsteht.
Für Kant ist hierbei die Wahrheit ganz klar die einzig korrekte Handlung, da der kategorische Imperativ die Maxime „Wahrheit“ allgemeingültig zulässt, während das Lügen nicht auf alle Situationen uneingeschränkt übertragbar wäre. Verantwortung für die Folgen der ehrlichen Antwort, selbst wenn sie den Tod des Freundes bedeuten sollten, lehnt er ab.
An dieser Stelle bröckelt die deontologische Argumentation von „guten Absichten“ entscheidend. Denn über die Werte, nach denen man sich ausrichten soll, lässt sich diskutieren, doch das bloße Handeln nach einem ethischen Kodex schützt nicht pauschal vor Schuld. Ich könnte mit bestem Gewissen im Wald mit Steinen umher schmeißen, ohne jemandem etwas zuleide tun zu wollen. Treffe ich aber zufällig einen Spaziergänger, so bin ich genauso verantwortlich für seinen Schmerz, als hätte ich bewusst auf ihn gezielt. Moralisch ist letzteres zwar deutlich verwerflicher, doch die Höhe des Schadens sowie die drohenden Konsequenzen gleichen sich.
Wir können also festhalten, dass Verantwortung für negative Handlungsfolgen nach Kants Philosophie nur greift, wenn die Intention der Handlung dem kategorischen Imperativ nicht gerecht wird. In der Realität lässt sich ein Sachverhalt jedoch selten so einfach beurteilen, weswegen Kant zur Beantwortung unserer Eingangsfrage keine praktischen Erkenntnisse liefert.
Wenn wir nun die Verantwortlichkeit unserer Taten nicht an ihrer zugrundeliegenden Motivation festmachen können, vielleicht gibt ja die Bewertung ihrer Folgen Aufschluss über unsere Haftbarkeit?
3. Hans Jonas, die Physiker und kollektive Verantwortung
In seiner 1961 erschienenen Komödie „Die Physiker“ ruft Friedrich Dürrenmatt den fiktiven Wissenschaftler Möbius ins Leben, der sich eigenständig ins Irrenhaus einweisen lässt, nachdem ihm die fatalen Folgen seiner Entdeckungen bewusst werden. Möbius ist sich im Klaren darüber, dass seine Erfindungen in den falschen Händen Millionen von Menschenleben kosten könnten und unternimmt im Verlauf des Stückes den Versuch, seine Manuskripte zu vernichten, um dieser Verantwortung zu entfliehen.
Dürrenmatt vertritt dabei den utilitaristischen Ansatz, der die Moralität einer Handlung an dem direkten und indirekten Leid, welches ihre Folgen beinhalten, ausmacht. Die Verantwortlichen für beispielsweise die Zerstörung von Atombomben sind somit nicht nur die politischen Strippenzieher und Soldaten, sondern auch die Wissenschaftler, die ihren Einsatz überhaupt erst möglich gemacht haben.
Eine ähnliche Position wie Dürrenmatt vertritt der Philosoph Hans Jonas, der dem kategorischen Imperativ Kants seinen eigenen, praktischen Imperativ entgegenstellt, der da lautet: „Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden.“ Sowohl Dürrenmatt als auch Hans Jonas würden wahrscheinlich Möbius die Verantwortung dafür zuschreiben, was Dritte mit seinen Entdeckungen anstellen. Hierbei wird keine Rücksicht darauf genommen, dass die späteren Folgen auf den ersten Blick nicht absehbar waren oder dass sie in ferner Zukunft liegen könnten.
Auch im Kontext des Umweltschutzes lässt sich der praktische Imperativ anwenden: Wir, die wir jetzt auf der Erde leben, haben die Verantwortung gegenüber unseren Nachfahren, einen bewohnbaren Planeten zu hinterlassen. Wir mögen zwar nicht allein die Erderwärmung verursacht haben, doch mit jeder Plastikverpackung und mit jeder Autofahrt steigt auch die persönliche Schuld des Einzelnen.
Es ist verlockend, die utilitaristische Denkweise ad absurdum zu führen: Nehmen wir an, ich bestelle mit eine Pizza und der Lieferant erleidet auf der Fahrt zu mir einen Autounfall. Bin ich dann für den Schaden verantwortlich? Schließlich sind die negativen Ereignisse durch meine Tat ins Rollen geraten und hätte ich an diesem Tag Nudeln gekocht, so wäre der Pizzalieferant vielleicht unbeschadet geblieben. Die Tatsache, dass das Einschätzen von Folgen einen rein spekulativen Charakter hat, macht das Zuschreiben von Verantwortung zu einem Ding der Unmöglichkeit. Und selbst an weniger weit hergeholten Gedankenspielen stößt Hans Jonas an seine Grenzen. So ist es beispielsweise kein Geheimnis, dass Billigware und Markenprodukte größtenteils von Kindern in China, Bangladesch und CO. gefertigt werden. Als Angehöriger der wohlhabenden Industriestaaten profitieren wir tagtäglich vom Kapitalismus, ja, vielleicht unterstützen wir ihn sogar durch den gelegentlichen Kauf bei H&M. Doch sind wir tatsächlich persönlich verantwortlich für die Kinderarbeit in Entwicklungsländern? Unbestreitbar genießen wir die Vorteile von Ungerechtigkeit, aber sind es nicht eher die Firmenbosse, die Politiker und Lobbyisten, die haftbar gemacht werden sollten? Auch in Bezug auf den Umweltschutz hält sich die Schuld des Einzelnen in Grenzen, denn „die da oben“ haben zweifelsfrei deutlich mehr Macht und damit auch Verantwortung, den Planeten mithilfe Gesetze und radikalen Maßnahmen zu erhalten. Kollektive Verantwortung nach Jonas‘ Vorbild schützt zwar niemanden vor Schuld, aber sie schützt die Schuldigen. Es ist einfach, der Allgemeinheit oder der Gesellschaft die Verantwortung für negative Entwicklungen zu geben. Der angebotene Lösungsansatz, dass jeder „nur ein bisschen mithelfen“ muss, um die Erde zu retten, verfließt, sobald man die Statistiken von CO2-Emmissionen von großen Firmen, Ölkompanien und Kohlewerken sieht.
Halten wir fest – die Folgen unserer Handlungen sind im Vorhinein nicht genau abschätzbar, wenn nicht sogar reine Spekulation. Zudem sind die Wirkungen des Einzelnen oft so gering, dass sie, wie im Kontext des Klimawandels, kaum einen Unterschied machen. Diejenigen, die durch ihre Taten tatsächliche Verantwortung für Ungerechtigkeit, Ausbeutung und Umweltverschmutzung tragen, sind durch ihre Machtposition nicht zur Rechenschaft ziehbar. Wieso sich also überhaupt Verantwortung für gesellschaftliche Probleme und das Leid anderer aufhalsen?
4. Warum nicht einfach Hedonismus?!
Hedonismus hat seinen schlechten Ruf als „sündhaft“ zu Unrecht. Es ist im Prinzip wie Utilitarismus, nur besser. Der Leitsatz lautet hier ebenfalls „Lustmaximierung“, aber nicht das „größtmögliche Glück für die meisten Menschen“ wird hier angestrebt, sondern nur das persönliche Glücksempfinden zählt. Die genaue Abschätzung von positiven Wirkungen bei anderen ist eh furchtbar schwer zu nachzuvollziehen und noch viel umständlicher gerecht zu bewerten, wieso also nicht einfach auf das eigene Wohl als höchste Priorität zurückgreifen? Sind wir nicht letztendlich den größten Teil der Zeit alle hedonistisch in unserem Denken und Handeln? Die meisten Menschen denken morgens beim Brötchen schmieren nicht an die Plastikverpackung ihres Käses und ihren Beitrag zur „Permanenz des echten menschlichen Lebens auf Erden“. Es klingt befreiend, die Verantwortung allein für die eigenen Wünsche, Ziele und Zufriedenheit zu übernehmen. Nicht umsonst heißt es: „Wenn jeder an sich selbst denkt, so ist an alle gedacht“.
Auch der Hedonismus untersagt es jedoch, anderen in der Erfüllung der eigenen Lustmaximierung zu schaden. Demnach sind die, die im Überschuss leben und ihre Bedürfnisse nicht zügeln können, wie gehabt verantwortlich für die Armut und den Mangel anderer. Zudem muss man Menschen berücksichtigen, denen die kognitiven, materiellen oder sonstigen Mittel fehlen, ihre Wünsche zu erfüllen. Wer würde in einer hedonistischen Gesellschaft freiwillig Verantwortung für Alte, Kranke und Menschen mit Behinderung übernehmen? Es ist eben nicht „an alle gedacht“, denn unsere Nachfahren sind noch nicht in der Lage, „an sich selbst zu denken“ und ein Wörtchen in der Gestaltung unserer Welt mitzureden. Hiermit klärt sich die Frage, warum denn interpersonale Verantwortung für eine funktionale Gesellschaft überhaupt nötig sei.
5. Die Suche nach dem Sündenbock scheitert
Dem aufmerksamen Leser drängt sich spätestens jetzt unvermeidlich die Frage: „Bin ich nun verantwortlich für Kinderarbeit und schmelzende Eiskappen oder nicht?“ auf. Und die ernüchternde Antwort lautet; ein bisschen. Jeder von uns ist verantwortlich für die ihm möglichen Handlungen und die nach bestem Wissen zu erwartenden Konsequenzen. Also ja, du bist mit jeder Autofahrt und jeder Bestellung bei NewYorker ein wenig mehr Schuld an den komplexen Problemen unserer Zeit. Es mag nur ein unbedeutender Anteil der kollektiven Verantwortung der Menschheit sein, genau wie diese Verantwortung nicht in gleichen Mengen auf allen Individuen verteilt ist, sondern proportional auf den Mächtigsten auch am gewichtigsten lastet. Aber mit jedem öffentlichen Bekennen zu dieser Verantwortung, mit jeder Stimmabgabe auf dem Wahlzettel und ja, auch mit jedem Kauf eines fair gehandelten Produktes kann der Einzelne sich als mündiger Mitmensch erweisen, der für sich und sein Handeln einsteht. Niemand kann uns die Pflicht als Mensch abnehmen, verantwortungsbewusst und rücksichtsvoll zu agieren. Denn die Wahrscheinlichkeit, dass sich Christus persönlich erneut all unsere Sünden auferlegt und sich ans Kreuz nageln lässt, ist leider verschwindend gering.
Miriam Huster (Schülerin Stufe 12)
Die Erlaubnis zur Veröffentlichung liegt schriftlich bei Frau Faßbender vor.